Elbe erreicht!

Ziemendorf - Schnackenburg (21 km)


Als ich das "Ferien- und Freizeitparadies" verlasse, scheint nach zwei Tagen mal wieder richtig die Sonne. Ich stand schon voll auf Entzug! Die Luft ist frisch, ein leichter Wind - mein Wetter! Von der Grenzerkaserne bis an den Rand des großen Gartower Forstes, den ich von nun an für einige Kilometer von Süden nach Norden fast vollständig durchqueren werde, brauche ich eine halbe Stunde. Von dort bis an den ehemaligen Grenzstreifen noch einmal genauso lang. Segensreiche Platte! Ohne die Lochbeton-Rückkehrerin würde ich in tiefem Sand versinken und nicht die Hälfte an Kilometer schaffen pro Stunde.


Vom Flugzeug aus dürfte der ehemalige Grenzstreifen im Gartower Forst als breite Schneise zu erkennen sein, die in der Mitte des Waldes einen markanten spitzwinkligen Knick aufweist. Auf diesen Knick steuere ich zu. Es ist die Wirler Spitze, eine von Jürgen Starcks bevorzugten Aufenthalts- und Forschungsorten. Von hier stammt auch sein Erinnerungsgeschenk an mich, das Minenfragment. Als ich dort ankomme, lasse ich mein Wheelie auf dem Kolonnenweg stehen und laufe über den ehemaligen Todesstreifen auf den weiß-gelben Sand zu, der am gegenüberliegenden Waldrand in den letzten beiden Jahrzehnten zu Dünen zusammengeweht worden ist. Nur wenige Pflanzen haben sich hier im Sand etabliert; die Düne ist noch in Bewegung. Auf ihrer Spitze steht ein kleiner Grenzstein und ein schwarz-rot-goldener DDR-Grenzpfahl. Beide sind aber nicht echt. Den Stein hat Jürgen Starck irgendwo anders ausgegraben und den Pfahl selbst gegossen und von einem befreundeten Maler anstreichen lassen. Beide "Hoheitszeichen" wurden dann von ABM-Kräften hier "eingepflanzt", allerdings an den originalen Standorten. Früher standen sich genau an dieser Stelle DDR-Grenzer und BGS-Beamte auf kürzester Entfernung gegenüber, sich wachsam gegeneinander belauernd, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln.


Ab der Wirler Spitze ist der K-Weg wieder ganz der alte, führt schnurgerader als ich weit gucken kann durch Sand und Kiefernwälder, so wie die jahrzehnte währende Werbung der Volks- und Raiffeisenbanken, die uns den Weg freimachen möchten. Ich mag mittlerweile diese Gegenden, wo der am weitesten verbreitete Mobilfunkanbieter "Netzsuche" heißt.


Nach mehreren Kilometern Schneisenlaufen auf einem Kolonnenweg, der genauso klar und deutlich seine Spur zieht wie nur noch der im Harz, passiert es dann: Ein Wanderer läuft über Stunden von A nach B und muss während dieser Zeit einmal am Wegesrand pinkeln. Im selben Zeitraum reitet eine junge Wanderreiterin in entgegengesetzter Richtung entlang der Kolonnenweglandschaft. Natürlich begegnet die Wanderreiterin dem Wanderer nach einer etwas unübersichtlichen Kurve exakt im Augenblick dessen Pinkelns. Soll ich mich nun verfolgt fühlen oder auserwählt? Jedenfalls meistern sowohl Wanderreiterin als auch der Wanderer die Situation souverän.


Ich könnte den Kolonnenweg wohl auch noch sieben bis acht Kilometer weiter ziehen, aber mein Wanderführer meint es gut mit mir, will mir noch zwei Dörfer zeigen, die beiden letzten von Sachsen-Anhalt. Morgen werde ich, auf der anderen Elbeseite, in Brandenburg sein. So komme ich noch nach Drösede und Bömenzien, zwei menschliche Siedlungsformen der Kategorie Garnixlos.


Von Stresow gibt es auch nicht viel zu sehen, gibt es als Ort auch gar nicht mehr, nur noch als Gedenkstätte, mit einem Modell der Grenzanlagen, einem Findling, der die Erinnerung an das Dorf wachhalten soll, das einstmals hier stand und wie Billmuthausen und Jahrsau und all die anderen zwangsleergesiedelt und abgerissen wurde. 16 Bäumchen sind hier gepflanzt worden für 16 Familien, die einst hier wohnten.


Gleich hinter der Gedenkstätte dann der erste Deich. Auf einmal bin ich ganz unruhig und aufgedreht wie ein Kind an Weihnachten vor der Bescherung. Irgendwo da vorn muss die Elbe fließen, mein nächstes großes Zwischenziel. Bin ich ihr wirklich schon so nah? Der Deich schlängelt sich umständlich nach Norden. Der Weg führt mich an seinem Fuß entlang, nicht oben drauf, wo ich was sehen könnte. Jetzt, endlich, zieht er hoch auf die Dammkrone ... Da ist ein Fluss, aber er ist viel zu klein. Das kann doch nicht die Elbe sein ... Ein genauer Blick auf die Karte. Quatsch, das ist der Aland, ein Elbezufluss. Seine Niederung ist weiträumig eingedeicht und gegenüber der Elbe mit Sperrwerken versehen. Die Alandniederung wurde damit zu einem riesigen Polder, das das Elbehochwasser aufnimmt und kontrolliert wieder abgibt. 


Als ich den Kirchturm von Schnackenburg von der Deichkrone aus vor mir sehe, bin ich bereits wieder in Niedersachsen. Eine Viertelstunde später gehe ich durch die kleine Backsteinhäuserstadt bis zum Marktplatz und zum Alten Fischerhaus, in dem das Grenzlandmuseum untergebracht ist. Doch ich will mich jetzt nicht zum wiederholten Male mit der Grenze auseinandersetzen, ich will die Elbe sehen, mich für ein paar Minuten an ihr Ufer setzen.


Vom Markt zweigt eine unscheinbare Straße zum Fähranleger ab. Und wo der Fähranleger ist, muss auch der Fluss sein. Dann sehe ich sie: Mutter Elbe, in sich ruhend, abgeklärt und funkelnd, strahlend träge, behäbig und selbstbewusst, die weiß, was sie geleistet hat, die weiß, was sie drauf hat und dass sie deswegen manchmal gefürchtet ist. Kein Lastkahn ist auf ihr unterwegs, kein Vergnügungsdampfer. Nur eine kleine Fähre macht gerade beim Anleger die Leinen los und sich "auf die Reise" ans andere Ufer. Morgen früh werde ich mit ihr übersetzen ans brandenburgische Ufer. Ich sitze zehn Minuten auf einer Bank oben auf dem Deich und genieße diesen Blick.


Auch wenn es merkwürdig klingt: Die Wiedervereinigung hat Schnackenburg nicht nur Freude gebracht. Als das, was - natürlich - jeder wollte, woran allerdings kaum noch jemand geglaubt hatte, überraschend eingetreten war, entfiel die Zonengrenzbezirksbeihilfe, dann schloss die Zollstation, die Bediensteten und ihre Familien zogen weg, keine Binnenschiffer hielten mehr an, um im letzten Elbhafen vor der DDR nochmal einzukaufen. Inzwischen hat auch der letzte Laden geschlossen.


Doch am Hafen steht das kleine "Hafencafé Felicitas", Anlaufstation für Einheimische, Auto-Elbtouristen, Radfahrer und Wanderer. Doch von letzteren gibt es hier nur ein Exemplar: mich. Und ich mache hier Quartier.


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