Deichbau tut not

Schnackenburg - Lenzen (12 km)


Frühstück gibt es nicht im Hafencafé, sondern ein paar Häuser weiter in der Alten Schule. Die Schiffergesellschaft von Schnackenburg hat hier auch ihr Hauptquartier, seit in dem Gebäude keine Kinder mehr unterrichtet werden. Doch allzu lange kann das nicht her sein, denn oberhalb der immer noch präsenten Wandtafel hängt noch ein Kasten an der Decke mit vier Landkarten, die bei Bedarf nur herunterzurollen waren. Irgendwann hat wohl auch an dieser Schule der technische Fortschritt brutal zugeschlagen. Ein Beamer der Gründergeneration, so groß wie kleiner Koffer, klebt an der Decke. Vielleicht nutzt ihn ja noch die Schiffergesellschaft.


Das Wetter sieht an meinem ersten Elbetag steigerungsfähig, aber nicht unbedingt nach Regen aus. Ob ich es mir allerdings leisten kann, den ganzen Tag über im T-Shirt zu gehen, wird sich noch zeigen. Bis zur Fähre sind es vom Hafencafé kaum zwei Minuten. Die "Ilka" liegt noch am gegenüberliegenden Ufer, und bevor ich mich mit einem "Hol über!" lächerlich mache, wirft der Fährmann seine Maschine an und arbeitet sich zu mir herüber. Seit 5.45 Uhr ist die Fähre schon in Betrieb und fährt seitdem immer "bei Bedarf" hin und her. "Bedarf" besteht bereits bei nur einem Fahrgast, und als nach mir ein Wagen mit Anhänger auf die Fähre rollt, sind die Aufnahmekapazitäten schon fast erschöpft. Leider spricht der Fährmann nur zwei Worte mit mir: "Ein Euro." Nimmt ihn und fährt sofort wieder "nach drüben", obwohl dort niemand auf ihn wartet. 


Auf der anderen Seite angekommen bin ich in Brandenburg, das auch mal auf ein Stückchen Ufer am Elbstrom vorbeischaut, eingekeilt zwischen Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, gegenüber Niedersachsen. Prompt redet man hier vom Vierländereck. Naja, wahrscheinlich für die Touristen. Direkt bei der Anlegestelle hat mich dann die Grenze mit ihren Grausamkeiten wieder: ein Stück Streckmetallzaun, daran befestigt drei vertrocknete Kränze und Fotos eines Grenzopfers. 1972 flüchtete der Grenzsoldat Jürgen Simon aus seiner Kaserne, zog sich bei einem Freund Zivilkleidung an und fuhr mit seinem Fahrrad bis in die Nähe dieser Fährstelle. Gegen 22 Uhr stieg er in die Elbe und begann hinüberzuschwimmen. Doch er wurde bereits erwartet. Irgendjemand muss ihn verraten haben. Ein Grenzboot legte ab und versuchte ihm den Weg abzuschneiden. Doch Simon schwamm weiter. Als er trotz Anruf nicht reagierte, wurde geschossen. Simon tauchte ab und blieb zunächst unverletzt. Dann aber fuhr das Grenzboot absichtlich mehrmals über ihn hinweg und verletzte ihn mit der Schiffsschraube tödlich. Tage später wurde sein zerfetzter Körper nördlich von Schnackenburg angeschwemmt.


So klar und unmissverständlich wie wohl sonst nirgendwo definierte die Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg, fast hundert Kilometer der Nordsee entgegen, rund 40 Jahre lang die innerdeutsche Grenze. Der Zaun stand direkt auf dem Deich, bevor es zum Wasser hinuntergeht. Und direkt hinter dem Deich treffe ich als erstes Dorf nach meiner Fährüberfahrt auf Lütkenwisch, ein Dorf, dass die DDR auch beinahe nicht überstanden hätte. Leersterben lassen wollten es die Regierenden. Sobald der Besitzer eines der Bauerngehöfte das Zeitliche gesegnet hatte, wurde es abgerissen. Die Nachfahren durften ihr Erbe nicht antreten, weil es sich im Sperrgebiet befand. Der Plan wäre fast aufgegangen. Gerade noch dreizehn Menschen lebten hinter dem zum Grenzwall missbrauchten Deich, als die Elbe wieder ein gesamtdeutscher Strom wurde. Jetzt sind es ungefähr fünfunddreißig.


Schon bald hinter Lütkenwisch merke ich, dass mein guter, alter Kolonnenweg jetzt der Elbe-Radweg ist. Größtenteils nur rüstige Senioren rollen auf komfortablen Rennmaschinen oder E-Bikes vorbei, in Hightechfaser-Outfit, mit maßgeschneiderten Satteltaschen. Grundsätzlich alle kommen mir entgegen, flussaufwärts, mit der vorherrschenden Windrichtung aus Nordwest im Rücken. Nur ich armer Hansel stemme mich gegen einen mir ins Gesicht blasenden Wind. 


Trotzdem genieße ich es. Eine gesegnete Landschaft. Diese Auen! Diese alten knorrigen Bäume, die bisher jedes Hochwasser überlebt haben. Die wilden Gräser, die Weiden, saftig grün. Und dort hinten, jenseits des Deichvorlandes, eben Mutter Elbe. Mag ja sein, dass es bei Vater Rhein auch nicht anders aussieht, die Rinder, die Auen, vielleicht sogar mehr Pappeln am Niederrhein. Aber dort dröhnt der Verkehr zwischen Basel, Ruhrgebiet und Rotterdam. Und hier kommt alle paar Stunden mal ein Kahn vorbei. Und dann wieder keiner.


Nach kaum einer Stunde komme ich an eine Stelle, wo der Deich sich teilt: Nach links geht der alte Deich recht nah an den Strom heran, nach rechts zweigt ein neuer, noch mächtigerer Deich ins Hinterland ab. Ich befinde mich nahe am "Bösen Ort", einer berüchtigten Stelle der Elbe. Am "Bösen Ort" macht die Elbe eine 90 Grad scharfe Biegung. Und ausgerechnet in diesem Bereich verringerte sich in der Vergangenheit das dem Fluss bei Hochwasser zur Verfügung stehende Bett von 1200 m auf weniger als 500 m. Beides zusammen ein erhebliches Gefahrenpotential. Bei dem sog. "Jahrhunderthochwasser" 2002 konnte der Deich nur mit größter Kraftanstrengung gehalten werden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts haben die Wasserbauer der königlichen Elbstromverwaltung auf diese Gefahr hingewiesen und auf Abhilfe gedrängt. 1963 wurde die Empfehlung zur Deichrückverlegung erneuert, ein Vorhaben, das aber aufgrund der Grenzsituation keine Chance hatte, realisiert zu werden. Erst nach der Wende, als der Deich saniert werden sollte, griff die Verwaltung des Biosphärenreservats Elbtalaue die Idee neu auf. Dabei ging es den Ökologen neben dem Hochwasserschutz mindestens genauso sehr um die Rückgewinnung eines Überflutungsraums, in dem sich mannigfaltige Naturschutzmaßnahmen verwirklichen ließen.


Dazu wurde zwischen 2005 und 2009 ein neuer Deich errichtet, der bis zu 1,3 km im Landesinneren liegt. Er ist 6,1 km lang und ersetzt damit den 7,2 km langen Altdeich. Er ist zwischen 5,70 m und 6,30 m hoch und hat eine Sohlenbreite von 45 m. Das entspricht 160 Kubikmetern Erdmaterial pro Deichmeter. Ein großer Anteil des erforderlichen Materials ist direkt vor Ort durch das Ausheben der Flutmulden und Flutrinnen im Rückdeichungsgebiet gewonnen und verwendet worden, war daher relativ kostensparend. Sechs Deichöffnungen im Altdeich von 200 bis 500 m Länge sorgen seit 2009 dafür, dass das mit ziemlicher Regelmäßigkeit auftretende Hochwasser wieder in die neu geschaffene, ca. 420 ha große Überflutungsaue einströmen kann. Deichbau tut not, zumal zu Zeiten, wo sich die Jahrhunderthochwasser die Klinke in die Hand geben.


Seit gerade mal sechs Jahren hat sich durch diese Deichrückverlegung die Landschaft zwischen dem neuen und dem alten Deich grundlegend gewandelt. Wo sich früher, wie jetzt immer noch rechts von mir, relativ eintönige landwirtschaftliche Flächen ausbreiten, befindet sich links eine Auenlandschaft in Entwicklung, die bereits in wenigen weiteren Jahren ihresgleichen suchen wird. Der Mensch wird diese Entwicklung mitverfolgen können, wenn er als Radfahrer auf dem Internationalen Elbe-Radweg unterwegs ist oder, wie ich, als Wanderer auf dem Grünen Band. Er wird sich an den Schafen erfreuen, die den Damm abgrasen oder an den Liebenthaler Wildlingen, einer aus norwegischen Fjordpferden und polnischen Koniks rückgekreuzten Wildpferdeart, die den Sommer über auf den Flächen um den aufwachsenden Auenwald weidet, um einen Teil der Fläche offenzuhalten. Kenner werden bedrohte Vogelarten oder gefährdete Pflanzen wiederentdecken.


Von dem Punkt an, wo heute der neue Deich wieder auf den alten trifft, ist es noch eine halbe Stunde bis nach Lenzen, meinem heutigen Tagesziel. Durch Wiesen und Felder gehe ich auf den Ort zu, wo sich Menschen schon vor Jahrhunderten in respektvollem Abstand zur Elbe ansiedelten. An der Seetorbrücke überquere ich die Löcknitz und schon bin ich in der Stadt, wenige Minuten später habe ich die Katharinenkirche erreicht, deren Türen einladend offen stehen. 


Ich bleibe nicht lang allein, weil eine ältere Dame heute ihren wöchentlichen Ehrenamtstag hat und den sich hier hinein verlierenden Menschen anbietet, die Geschichte der "Brezeltante" zu erzählen, der 1560 geborenen ehren- und tugendhaften Anna Götze, die alljährlich am Freitag vor Palmarum jedem Schulkind drei Brezeln und drei Bogen Schreibpapier stiftete. Und jedem Lehrer jeweils zwölf. Vor allem hinterließ sie ein Testament samt Vermögen, so dass Brezelspeisung und Papierversorgung bis ins 20. Jahrhundert Brauch bleiben konnten. Dann kam die Weltwirtschaftskrise und die Stiftung ging durch den Schornstein. Aber jetzt gibts wieder Brezeln für die Kinder, mit Sponsering vom Bäcker. Und eine sorgsam restaurierte Grabplatte in der Kirche, von der aus die Stifterin mich so ansieht, dass ich sofort selbst spenden muss.


Meine Unterkunft für heute ist das Burghotel von Burg Lenzen, allerdings die preiswerte Variante im Gästehaus, dem sanierten Gebäude der benachbarten alten Schule. Burg Lenzen existiert seit der Slawenzeit und steht auf einem Hügel am Ufer der Löcknitz. Zunächst war sie aus Holz gebaut. Es folgte die mittelalterliche Burg der Deutschen. Sie war finster, hatte hohe Mauern und war von einem Wassergraben umschlossen. Heute ist sie ein freundlicher Bau, der zu großen Teilen aus dem Barock stammt und während der letzten Jahre im Auftrag des BUND, dem jetzigen Eigentümer der Burg, saniert und als Zentrum für Auenschutz mit Hotel, Restaurant und Tagungsräumen eingerichtet wurde.


Die Preisvorstellungen im Restaurant sind mir allerdings etwas gewagt und so marschiere ich zum Abendessen ins nahegelegene "Marktcafé". Da tut es dann auch eine Bockwurst mit Kartoffelsalat für 4,20 €.


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