Deichidylle

Lenzen - Dömitz (26 km)


Gepolter im Gästehausflur weckt mich. Zwei Radler aus dem Nachbarzimmer machen sich schon auf den Weg. Ohne Frühstück. Das gibt es im Wintergarten von Burg Lenzen erst ab 8 Uhr. Aber ist das ein Grund, die Unterkunft mit solch einem Getöse zu verlassen? Damit stehlen sie mir eine halbe Stunde Schlaf! Stimmt eigentlich gar nicht. Bisher war ich immer wach, bevor der Handywecker sich meldete. Auch heute. Also noch ein wenig rumdrömeln, sich an einiges zurückerinnern, was war, in Vorfreude dran denken, was noch kommt. Doch dann die Erkenntnis: Huch, genau in zwei Wochen wirst du gerade zu Hause das erstemal wieder in deinem eigenen Bett aufgewacht sein. Ein schlechter Gedanke? Ein guter Gedanke? Ich weiß es noch nicht so recht. Zumindest ein Gedanke, an den ich mich so langsam gewöhnen muss.


Von Lenzen geht es zurück an den Elbdeich. Wieder ein sonniger Tag, ein frischer Morgen. Wieder brauche ich mich nur auf die Natur zu konzentrieren und nicht auf den Weg. Meine Karte kann ich eigentlich verstauen. Die Strecke entlang der Elbe ist perfekt ausgebaut. Vom Kolonnenweg mit seinen Lochbetonplatten gibt es nur noch kurze Abschnitte, der größte Teil wurde für Radwanderer durch asphaltierte oder betonierte Wege ersetzt. Keine Schlaglöcher, noch nicht mal Unebenheiten, dann der Blick aufs Wasser, Laufluxus pur. Ich muss nicht befürchten, einen Abzweig zu verpassen, es geht eben immer nur auf dem Deich entlang, heute und noch drei weitere Tage.


Ich stoße wieder auf den Deich, wo auch die Personenfähre nach Pevesdorf hinüberfährt. Fahren sollte, aber der Betrieb ist eingestellt. Die Elbe führt aufgrund der langen Trockenheit zu wenig Wasser. Wenige Meter weiter steht ein ehemaliger Grenzturm direkt am Deich. Damals mussten die Grenzer praktisch über Leitern von innen ihre Beobachtungsplattform erklettern, heute führt eine bequeme Außentreppe aus Stahl nach oben und dient den Elbtouristen als Aussichtspunkt.


Obwohl es heute genauso eine Deichwanderung ist wie gestern, ist die heutige doch etwas anders. Gestern führte der Deich wegen der vor einigen Jahren erfolgten Deichrückverlegung weiter ab von der Elbe, heute verläuft er viel näher dran am Strom. Gestern sah ich auf der Strecke keine menschliche Besiedlung, heute reihen sich einige kleine Dörfer am Fluss entlang. Mödlich, Wootz, Kietz heißen sie, Unbesanden, Besanden, Baarz und Gaarz. Zu sehen bekomme ich ja eigentlich nur die Häuser und Höfe dieser Dörfer, die sich unmittelbar hinter dem Deich ducken. Viele edel restauriert, die meisten wunderschöne große Hallenhäuser, Fachwerk, das Gefache mit rotem Backstein ausgemauert, oft mit Stroh gedeckt. Jedes Haus mit einem großen Grundstück, nur ein Teil davon als Garten genutzt, viel auch gemähter Rasen, Obstbäume, Außensitzplätze und jede Menge Blumen. Und fast zu jedem dritten Grundstück gehört ein Storchennest, nicht auf den Hausdächern, sondern auf großen Holz- oder Betonmasten, die etwas abseits am Rand des Grundstücks stehen.


Obwohl ich diese Idylle auf mich wirken lassen kann, muss ich immer wieder daran denken, wie es einst hier war. Der Grenzzaun erhob sich 3,60 m hoch auf dem Deich, kaum jemand in den Häusern konnte darüber hinwegsehen, auch aus den oberen Stockwerken nicht. Ein Aufenthalt zwischen dem Flussufer und dem Deich war unmöglich. Man wohnte an der Elbe, aber man sah sie nicht. Und die Häuser drüben auf der anderen Seite, in Niedersachsen, erst recht nicht. So sollte es sein! Die Grenzer patrouillierten oben auf dem Kolonnenweg entlang und hatten alles im Blick, sowohl "feindwärts" als auch "freundwärts". Heute sind an ihrer Stelle Radler und Wanderer unterwegs, der Kolonnenweg heißt jetzt "Internationaler Elbe-Radweg" und viele der Häuser sind nun Pensionen, Ferienwohnungen und Raststätten für Urlauber und Freizeit-Aktive oder zumindest gern gewählte Fotomotive.


Nahezu jedes dieser Häuser besitzt eine eigene Bank, die oben auf dem Deich steht, für die stillen Momente, zum Rüberschauen, jetzt, wo es wieder geht. Nur bei den wenigsten steht "Privat" drauf, die meisten kann auch der Rad-Wanderer benutzen für die kleine Pause zwischendurch. In Wootz nehme ich auch mal die Gelegenheit dafür wahr. Bei einem flüchtigen Blick auf meine Karte stelle ich fest, dass die Häuser auf der anderen Elbseite zu Gorleben gehören, einem der wohl bekanntesten Dörfer Deutschlands. Mit ihm assoziiert man Castor-Transporte und Nuklearmüll, oberirdische Zwischenlager und unterirdisches Endlager-Erkundungsbergwerk. Welch ein harmloses Wort, als handele es sich um einen Abenteuerspielplatz. Auch tief unter der Elbe verlaufen Schächte, in einen Salzstock getrieben von West nach Ost. Fast jährlich bewegt dort eine Kontroverse die Nation und sorgt für Schlagzeilen wie "Stoppt Castor! Gorleben soll leben!"


Von diesem Vorhaben mit unkalkulierbarem Risiko weiß ich nur so viel: 1980 beginnt die Erforschung des Salzstocks Gorleben hinsichtlich einer Eignung als Atommüll-Endlager. Der Widerstand der Wendländer Bauern, unterstützt durch angereiste Sympathisanten, erreicht seinen Höhepunkt, als im Mai 1980 an der "Bohrstelle 1004" 5000 Demonstranten die "Freie Republik Wendland" ausrufen. Ein pasr Wochen später wird die "Freie Republik Wendland" gewaltsam durch Polizeieinsatzkräfte aufgelöst. Seitdem erreichen immer wieder Atommülltransporte aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague das Wendland, trotz erbitterter Blockadeversuche der wendländer Bauern und ihrer solidarischen Sympathisanten. Eine zeitlang hatte ich mir immer eingebildet, die strahlenden Castoren stünden tief im Salz, unterirdisch, und warteten darauf, dass dieses Atommüllzwischenlager zum Endlager erklärt werden würde. Aber ich glaube, man weiß heute noch nicht einmal, wie man die Abfälle aus den Castoren umpacken müsste, bevor man ihn im Salz versenken könnte. Was aber ohnehin keine Endlagerlösung ist, was man nun endgültig seit der Entdeckung des radioaktiven Salztunkengebräus in der Schachtanlage Asse wissen müsste. Es gibt keine Lösung. Es gibt nur strahlenden Dreck. Der strahlt auch noch in ein paar tausend Jahren. Und der steht in einer Halle in einem Wald nicht weit vom Dorf Gorleben entfernt, nicht im Salz, nicht unterirdisch. Und um die Halle herum stehen Zäune, Erdwälle, Stacheldraht, Verbotsschilder, Metalltorschleusen, Flutlichtmasten, Videoüberwachungsanlagen. Muss ich mich da wundern, dass auch hier, auf der anderen Seite der Elbe, an vielen Hauswänden oder Zäunen das gelbe Kreuz steht, als Zeichen des Sich-Querstellens, oder die gelbe Fahne mit dem Aufdruck "AKW - NEIN DANKE!" flattert?


Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, höre ich hinter mir das Gartentor quietschen und sehe dann, wie ein junges Mädchen mit einer Flasche Wasser zu mir auf den Deich geklettert kommt. "Hallo, ich habe Sie gerade von meinem Zimmer aus hier sitzen sehen. Haben Sie Durst? Die Flasche ist aus dem Kühlschrank. Ich bin im vorigen Jahr hier von unserem Gartentor aus auf dem Elbe-Radweg bis Cuxhaven gewandert. Schön war das! Da hat mir auch mal jemand Wasser gebracht und deshalb dachte ich, tue ich das jetzt auch." Ich bin gerührt über diese nette Geste. Sie setzt sich zu mir und wir unterhalten uns eine Weile.


Nele ist 16, macht im nächsten Jahr Abitur. Vor fünf Jahren sind sie aus Hamburg hierher gezogen. Eigentlich sei es ganz schön hier, aber ..., na ja ... Problem sei das Ländliche, die schlechte Anbindung an Wowaslosist, die Tothösigkeit. Eine gute Schulfreundin zu besuchen hieße eine Stunde Fahrrad fahren, eine Strecke. Wenn sie das Abitur hat, will sie ein Jahr in den Freiwilligendienst und dann in Hamburg studieren. Und dann mal sehen was wird ...


Nach etwa zwanzig gemeinsamen Bankminuten schütte ich mir den Rest des Wassers in meine Flasche, bedanke mich bei Nele, wünsche ihr alles Gute für eine Zukunft in Wowaslosist und ziehe weiter. "Ok", ruft sie hinter mir her, "ich muss jetzt noch für eine Klausur lernen. Und dann können die Ferien kommen!" Als ich wieder unterwegs bin, kommt mir der Gedanke: "Warum war das Mädchen denn nicht in der Schule? Ist doch gerade mal Mittagszeit? - Na ja, vielleicht hat sie ihre Sommergrippe genommen. Für eine Klausur lernt man wirklich am besten zu Hause."


Auf dem Weg bemerke ich die zahlreichen Störche, die unten im Deichvorland über die frisch gemähten Wiesen stolzieren. Im Gegensatz zu den Reihern, die zwar noch zahlreicher an den Rändern der mit Wasser gefüllten Flutrinnen und -mulden stehen und wegfliegen, sobald ich mich nähere, lassen sich die Störche bei ihrer Suche nach Nahrung überhaupt nicht stören. Sie kennen die Nähe zu den Menschen, leben sie doch in ihren Nestern nahezu "Tür an Tür" mit ihnen und ziehen sogar in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ihre Jungen auf.


In Unbesanden dann eine Überraschung: Drei Jungen, vielleicht 18 Jahre alt, drängen sich auf einer kleinen Bank zusammen. Rucksäcke stehen zu ihren Füßen, trotzdem schaue ich mich nach ihren Fahrrädern um. Sie bemerken das und lachen: "Nein, nein, wir wandern! Auf dem Grünen Band! Bis zur Ostsee" Das ich das noch erleben darf ...! Als ich ihnen antworte, dass sie damit die ersten seit fast zwei Monaten wären, die ich treffe, liegt das Erstaunen auf ihrer Seite. Auch auf dem Grünen Band? Wie lange denn schon? Wo angefangen? Wie viele Kilometer so am Tag? Sie hätten in Arendsee angefangen, wären jetzt zweimal dreißig Kilometer marschiert. Ich empfehle, es mit den Tageskilometern nicht zu übertreiben, das würde sich irgendwann wahrscheinlich rächen. Darauf lachen alle drei etwas verkniffen:"Das rächt sich jetzt schon!" Immer diese Anfängerfehler! Was sagt man beim Abschied in der Annahme, dass man sich irgendwann nochmal begegnet? "Wir seh'n uns! Bis dann!"


Am Schluss der Etappe erreiche ich Dömitz und bin damit bereits in Mecklenburg-Vorpommern. Bundesland Nummer 8 in meiner Sammlung. Schon von Weitem sehe ich die große, inzwischen auch nicht mehr ganz neue Spannbogenbrücke, die heutzutage immer noch die einzige Straßenbrücke ist, das einzige west-östliche Bindeglied in dieser Region. Seit Ende 1992 steht sie jetzt dort an Stelle der alten, im Krieg zerstörten. Die 800 m lange Elbbrücke war zwischen 1934 und 1936 erbaut worden und damals eine der längsten Straßenbrücken Deutschlands. Ihr Ende kam mit dem Bombardement im April 1945. 


Noch davor, auf niedersächsischer Seite , sehe ich das Torso der alten, fast noch eindrucksvolleren Eisenbahnbrücke von 1872. Es war für Kraniche, Reiher, Störche, Gänse, Schwäne und andere Elbanrainer wohl ein Schock, als ab September 1870 Arbeiterkolonnen drei Jahte lang hier eine etwa 1000 m lange Eisenbahnbrücke bauten: vier kleinere Bögen auf östlicher Seite bei Dömitz, daran anschließend eine Drehbrücke, vier große Brückenbögen und dann nochmal 16 jener kleineren Bögen auf westlicher Seite. Es bedurfte am 20. April 1945 nur weniger Minuten, um sie zu zerstören.


An Stellplätzen für Wohnmobilisten vorbei komme ich zum Dömitzer Hafen. Der alte Hafenspeicher glänzt dort als große Hotelanlage, mit Panoramacafé im obersten Stockwerk, Strandbar mit extra aufgeschüttetem Sand und unechten Palmen, Swimmingpool und Hafenbar. Ein edler Geschäftsmann und Millionär aus Düsseldorf hat investiert, um für die Region Arbeitsplätze zu schaffen. Sagte er. 


Vielleicht sollte er sein Engagement für die Region fortsetzen oder auch speziell für Dömitz. Viel ist dort schon an Restaurierungen gemacht worden, manches müsste aber noch getan werden. Mein Dachgeschoss-Zimmer in der Unterkunft ist aber schon fertig renoviert. Mir reicht das jetzt erstmal.


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