Dorfrepublìk Rüterberg

Dömitz - Hitzacker (22 km)


In meinem Dachgeschosszimmer in der Dömitzer Radlerherberge "Alte Brauerei" wache ich morgens mit Kopfschmerzen auf. Ich weiß auch warum. Immer wieder vergesse ich, unterwegs bei Sonne meinen Hut aufzusetzen. Wenn der Wind geht und es eigentlich gar nicht übermäßig heiß ist, verdödel ich das einfach. Sonnenbrand auf der Kopfhaut ist für mich schon fast ein Normalzustand. Ja, ja, ist gar nicht gut, ich weiß. Wahrscheinlich sind die Kopfschmerzen so eine kleine Vorstufe von Sonnenstich. Wie heißt es so schön: Jeder ist seines Glückes Schmied.


Mit einem dicken Kopf marschiere ich also aus Dömitz hinaus. Direkt am Weg am Stadtausgang liegt die Dömitzer Festung, ein recht imposantes Bauwerk. Ein Pentagon, immer noch von Wasser an allen Seiten umgeben. Zwischen 1559 und 1560 wurde sie an einer strategisch günstigen Stelle gebaut. Sie war Mecklenburgs mächtigste Bastion und sollte das Elbland sichern, aber auch die Einziehung von Zolleinnahmen gewährleisten. Doch der Belagerung durch Heerführer Wallenstein während des Dreißigjährigen Krieges war sie nicht gewachsen und kapitulierte. So gilt Wallenstein als der prominenteste Festungsbewohner. Neben dem niederdeutschen Literaten Fritz Reuter, der ab 1839 wegen "hochverräterischer burschenschaftlicher Verbindungen und Majestätsbeleidigung" hier ein Jahr seiner siebenjährigen Haft verbüßte und danach den autobiografischen Roman "Ut mine Festungstid" verfasste.


Schnell bin ich wieder auf einem Deich, kreuze dann die Straße, die über die neue Elbbrücke führt, und gehe weiter auf einem Deich. Aber von der Elbe ist nichts zu sehen. In einer weiten, S-förmigen Schleife hat sie sich von mir entfernt und wird sich erst in Rüterberg wieder mit mir treffen. Ich nähere mich einem Geesthang, der einen Deich unnötig macht. Sandig trocken wird es um mich herum, hügelig, mit Kiefern bewachsen. Auf einem Kolonnenweg geht es an einem Waldrand den Hang hinauf - und plötzlich höre ich Flügelschlagen. Ein großer, schwarzer Vogel mit langem, rotem Schnabel fliegt aus dem Wald hinaus und landet etwas weiter auf einer Wiese. Ein Schwarzstorch! Während der Weißstorch die große Furcht vor den Menschen verloren hat und sogar in seiner Nähe brütet, sieht das bei den Schwarzstörchen ganz anders aus. Sie sind nach wie vor äußerst scheu und nisten mit Abstand zum Menschen vorzugsweise an Waldrändern. Da hatte ich doch mal Glück ...


Jenseits des Geesthügels liegt Rüterberg, ein Dorf, welches zur Wendezeit Berühmtheit erlangte. Rüterberg hieß eigentlich Wendisch Wehningen-Broda und ist wie alle Dörfer an der Elbe ein sehr alter Ort. Schon im 14. Jahrhundert benutzten Kaufleute diese günstige Stelle, um über die Elbe zu gelangen. 1938 wurde das Dorf von den Nazis im Rahmen der "Arisierung von Ortsnamen" in Rüterberg unbenannt. Den Krieg überstand Rüterberg fast unbeschadet. Dann kamen die Besatzungstruppen: Erst die Amerikaner, denen folgten die Briten. Im Juli 1945 marschierten die Russen ein, da die Briten keine Möglichkeit sahen, die Bevölkerung der rechten Elbeseite ohne vorhandene Brücken ausreichend zu versorgen. Sofort begann die Abschottung. Nur war die in Rüterberg noch gründlicher und spürbarer als anderswo. Denn Absperrungen verliefen nicht nur westlich des Dorfes in Form des "Antifaschistischen Schutzwalls", sondern verhinderten auch im Osten den freien Zugang seiner Bewohner zum eigenen Land, der DDR. Eingesperrt zwischen zwei Zäunen lebten die Rüterberger das Leben von Häftlingen. 


Während der Hauptgrenzzaun mehr oder weniger dem Elbdamm folgte, wurde der zweite Metallgitterzaun entlang der heutigen B 195 errichtet, um Fluchtwilligen nicht den Hauch einer Chance zu lassen, das Grenzgebiet überhaupt zu erreichen. Nach Rüterberg blieb ein Eingang offen, abgesichert mit einem Eisengittertor und 24 Stunden bewacht von den Grenztruppen. Jeder, der nach Rüterberg wollte, musste durch diese Tür. Dort hörten sogar die Einwohner selbst die Aufforderungen der Posten, die sonst weltweit nur an Landesgrenzen ergeht: "Die Einreisepapiere bitte". Und wer Rüterberg verließ, musste "Ausreisepapiere" vorweisen. Der Irrwitz ging so weit, dass Grenzposten Dorfbewohner festnahmen, wenn sie ohne Papiere oder nach der Sperrstunde um 22 Uhr zurück zu ihren Häusern wollten. Durch radikale Aussiedlung von "unzuverlässigen Personen" war die Bevölkerung auf 150 Leute zusammengeschmolzen. Das Wohnrecht in der Heimat musste alle drei Monate erneut beantragt werden und wurde durch einen Stempel im Personalausweis dokumentiert. Das gesellschaftliche und soziale Leben wurde auf ein Minimum reduziert. Im Jahre 1988, kurz vor dem Fall der Mauer, wurde der Zaun noch einmal "grunderneuert". Das war genug.


Zu Beginn der Wende machten die Rüterberger ihrem Unmut Luft. Hans Rasenberger, ein Schneidermeister und der Leiter des Dorfklubs, beantragte am 24. Oktober 1989 bei den Behörden in Ost-Berlin die Genehmigung für eine Einwohnerversammlung. Angesichts der Unruhen im Land wurde die Versammlung genehmigt, was für einen Schutzstreifenort eine außerordentliche Sache war. Am 8. November 1989 trafen 90 Rüterberger mit dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes Ludwigslust, einem Vertreter vom Rat des Kreises und einem Offizier der Grenztruppen zusammen und berieten über die Öffnung bzw. Beseitigung des zweiten Zaunes. Nicht den nach Westen, sondern den zum eigenen Land, der DDR. Die Obrigkeit war unbeweglich, stur und verstockt, nicht bereit zur allerkleinsten Veränderung. Nach Abreise der offiziellen Organe blieb man zusammen. Rasenberger schlug vor, die Urform der schweizerischen Demokratie zum Vorbild für Rüterberg zu wählen, um sich eigene Gesetze für das Dorf schaffen zu können. Alle 90 Rüterberger stimmten dem Vorschlag zu und erklärten ihren Ort zur "Dorfrepublik". 


Die Stasi reagierte auf die "Provokation" der Rüterberger sofort: Am nächsten Tag standen in Ludwigslust fünf Lastwagen bereit, um die abtrünnige Republik notfalls mit Gewalt wieder in Besitz zu nehmen. Ein historischer Glücksfall kam den mutigen Dorfbewohnern zu Hilfe: Der nächste Tag war der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. Doch davon merkten die Rüterberger erst einmal wenig. Die Kontrollen in Rüterberg wurden aufrechterhalten - was zu der absurden Situation führte, dass DDR-Bürger nun in den Westen, aber nicht nach Rüterberg reisen durften.


Rüterberg ist heute ein schmuckes Dörfchen. Viele neue Eigenheime sind entstanden, hübsche Häuser mit gepflegten Vorgärten. Von den Grenzanlagen stehen heute noch das einstige Zauntor als Gedenkort am Ortsausgang unten an der Elbe und ein ehemaliger Grenzturm. Der ist inzwischen in Privatbesitz, umgeben von einem gepflegten Garten, inzwischen größtenteils mit Efeu überwachsen und als Ferienhaus zu vermieten. Und an vielen Häusern flattert die bunte Fahne der Republik.


Bald hinter Rüterberg überquere ich die Grenze zu Niedersachsen. Mecklenburg ist plötzlich wieder weg und hat sein Elbufer weitergereicht. Wie?! Ich dachte, Meck-Pomm würde nun eigentlich bis zur Küste mein Grenz-Ostufer bleiben. Pustekuchen. Obwohl doch die innerdeutsche Grenze damals durch die Elbmitte verlief? Alles richtig, aber: Bis Ende des Krieges gehörte das Amt Neuhaus zu Lüneburg und Lüneburg zu Niedersachsen. Nach dem Krieg kam das Gebiet zur russischen Besatzungszone. Doch nach der Wende wählte sich das Amt Neuhaus wieder nach Niedersachsen zurück. 1993 gab es einen Staatsvertrag zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern: Hannover empfing, Schwerin ließ ziehen, gut 6500 Bürger wurden Andere.


Der Weg am Deich entlang verläuft nun kilometerlang parallel zur "Deutschen Storchenstraße", wie bereits gestern. Wieder reiht sich ein Storchennest an das andere, fliegen die Adebare durch die Lüfte oder stolzieren in Scharen durch die Elbwiesen. Ohne jede Scheu marschieren sie sogar unmittelbar hinter dem Trecker her, der gerade eine Wiese mäht. Frisch angerichtet, schmeckt es eben am besten. 


Bohnenburg, Wilkensdorf, Raffatz, Strachau und Laake heißen heute die Örtchen, die hinter dem Deich stehen und manchmal nur drei, vier Häuser haben. In Herrendorf zweigt dann der Kopfsteinpflasterweg zur Personenfähre nach Hitzacker ab. Außschließlich Radwanderer finden sich außer mir an der Anlegestelle ein. Unmittelbar nach der Maueröffnung fuhr hier bereits wieder eine Fähre von Hitzacker ans Ufer der DDR. Über 100 Personen sollen es damals freudetrunken gewesen sein. Doch auch eine menschliche Tragödie war dabei. Nur wenige Minuten nachdem er seinen Fuß an Land gesetzt hatte, versagte bei einem Mann das Herz und er verstarb. Vielleicht wäre er noch zu retten gewesen, aber so kurz nach dem Mauerfall konnten sich beide Länder noch nicht über die Zuständigkeiten für den Einsatz eines Rettungshubschraubers verständigen.


Mit Hitzacker verbinde ich zweierlei: wiederholtes "Land unter!" bei Hochwasser und Claus von Amsberg, Sohn der Stadt und ehemaliger Prinzgemahl von Königin Beatrix der Niederlande. Jetzt weiß ich auch, dass Hitzacker eine wunderschöne kleine Altstadt hat. In aller Ruhe schlendere ich hindurch und erfahre dann bei der Touristen-Information, dass meine Unterkunft noch etwa einen Kilometer außerhalb der Altstadt auf einem der Elbhügel liegt. Das hat man davon, wenn man sich nach preiswerten Quartieren umgesehen hat.


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Kommentare: 1
  • #1

    inge.geisler (Samstag, 20 Juni 2015)

    Hallo Reinhard. Vielen Dank für so viel dt. GESCHICHTE. schönes Wochenende Dir und allen Lesern. Schönes Wetter für die letzten Etappen. Gruss Inge