Geschundenes Vockfey

Hitzacker - Stiepelse (26 km)


Um Punkt 9 Uhr bin ich an der Fähre, die mich zurück ans andere Elbufer bringen soll. Früher wäre auch sinnlos gewesen, denn um diese Zeit erst legt die Fähre das erstemal von der Anlegestelle Hitzackers ab. Damit ist sie mehr als drei Stumden später in Dienstbereitschaft als die in Schnackenburg. Großer Unterschied: Der Fährmann in Schnackenburg transportiert auch Autos, d.h. wohl auch Berufstätige, die irgendwo jenseits der Elbe ihre Arbeitsstelle haben. Dagegen ist die Fähre von Hitzacker nur eine Personenfähre, d.h. hauptsächlich für Radler, die in Hitzacker Quartier bezogen haben und morgens wieder zurück zum jenseitigen Elberadweg wollen. Nur von dieser Spezies ist noch keiner zu sehen. Sind wohl etwas spät dran, die Herrschaften.


"Wenn jetzt die Sonne scheinen würde, wäre das wohl anders", meint der Fährmann. "Und Sie wandern? Hat man hier nicht so oft. Hier fährt alles mit dem Rad. Von wo kommen Sie denn?" Als ich ihm die Tschechische Grenze nenne, meint er anerkennend: "Dann haben Sie ja schon 500 Kilometer geschafft!" Ich wundere mich kurz, dann wird mir sein Irrtum klar. Der Elberadweg beginnt (oder endet) ebenfalls an der Tschechischen Grenze und er denkt wohl, dass ich den Radweg erwandere. Als ich ihm mitteile, dass ich auf dem Grünen Band unterwegs bin und mittlerweile bereits über 1100 Kilometer hinter mehr habe, zeigt er sich einigermaßen fassungslos? "Und jetzt geht's weiter bis Cuxhaven?" Gedanklich ist er schon wieder beim Elberadweg. Ich muss innerlich grinsen. Dann hätte Hamburg ja auch 45 Jahre lang in der DDR gelegen. "Nee, bis an die Ostsee, bis zum Priwall bei Lübeck", versuche ich ihm klarzumachen. "Boah, das ist aber noch ein Stück!", stellt er fest und schaut mich mit großen Augen an. "Ja schon, aber nicht mehr so weit wie bis nach Cuxhaven."


Von der Sonne ist in der Tat nichts zu sehen. Noch nicht. Es sind die Wolken, die dem Ganzen eine besondere Note verleihen. Wie mit reichlich Farbe hingetuscht. Sattes Grau in unterschiedlichen Schattierungen. Tief hängen sie und schwer wirken sie, als würden sie die Landschaft breit drücken. Auch das ist schön. Schön ist auch, dass meine Kopfschmerzen von gestern verschwunden sind. Heute sehe ich klar, gestern wirkte alles lange Zeit irgendwie dumpf. Heute bin ich richtig gut drauf, heute geht was. 


Kaum bin ich einen Kilometer unterwegs, stoße ich auf etwas, das mich immer wieder erfreut: ein kleines Metallregal steht auf dem Deich: kleine Gläser mit selbstgemachtem Apfelgelee, Flaschen mit Apfelschorle und Wasser, Äpfel, Müsliriegel - und natürlich die obligatorische Spendendose. Getränke brauche ich nicht, aber ich nehme einen Apfel und einen Müsliriegel und versenke einen Euro in der Box.


Meine Laune ist prächtig und so bedingt eins das andere: Links feuern mich mindestens drei Kuckucks aus dem ufernahen Auenwäldchen an, rechts schreien förmlich ganze Hundertschaften von Fröschen aus einem Brackwasser ihre Lebensfreude hinaus und über mir öffnet sich mehr und mehr die Wolkendecke, um der Sonne Platz zu machen. Der Deich ist wie ein großer Aussichtsbalkon, ich schaue auf unendlich weite Wiesen, knorrige, uralte Bäume, die bisher noch jedem Hochwasser standgehalten haben, auf alte, ehrwürdige Häuser, auf bunte Gärten, Storchennester, stocksteif stehende Reiher, segelnde Milane und natürlich auf den Fluss, auf dem ich heute in der Tat mal drei kleine Kajütboote mit der Strömung ziehen sehe. Immer mal wieder Bänke, auf die ich mich zu großer Ruhe setzen könnte, aber mich zieht es weiter.


Etwas beleidigt bin ich manchmal, wenn man mich von der Deichkrone "wegzerrt", d.h. wenn der Weg dort oben einfach endet und ich am Deichfuß entlang muss. Rechts geht dann zwar der Blick immer noch weit ins Marschland, aber auf dem linken Auge habe ich das Gefühl, ich hätte eine Scheuklappe auf. Verständnis habe ich natürlich, wenn sich ein rot-weißes Flatterband über den Weg spannt mit dem Hinweis "Umleitung - Schafsbeweidung". Dann ist da oben kein Durchkommen, denn die Pullovertiere stehen nämlich nicht nur an den Hängen des Deichs, sondern bevölkern in Fresspausen oder während des Mittagsnickerchens die ebene Fläche des Weges. Ich würde mich ja auch nicht in ein schräg gestelltes Bett legen.


Aber wehe, die Schafe bekommen ein neues Fressrevier zugewiesen! Dann ist der Weg übersät mit Schafskacke. Ich wäge des öfteren ab: Schafskacke oder Scheuklappe. Schafskacke gewinnt. Anfangs sind meine Versuche, der Schafskacke auszuweichen, verzweifelt, nahezu lächerlich. Keine Chance, entweder trete ich rein oder mein Wheelie rollt rüber. Also, was soll's!? Eigentlich ist die Schafskacke auch schon ganz schön getrocknet. Außerdem muss man die Sache auch mal positiv sehen: Hier oben könnten ja auch mal ganze Tierheime mit Hunden und Katzen ausgeführt werden, dann hätte ich ein größeres Problem.


Irgendwie geht heute die Zeit schneller vorbei als an manch anderem Tag. Ich stehe viel und schaue mich um, ich lese viel auf erklärenden Hinweistafeln, die am Wegesrand stehen und ich staune viel, wie schön die Welt sein kann, hier, jetzt, in dieser Minute.


Dass das auch mal anders war, erlebe ich, als ich zur "Gedenkstätte Vockfey" komme. Sie steht direkt am Ortseingang, nicht am Deich, sondern an der "Deutschen Storchenstraße". Sie erinnert an die Zwangsaussiedlungen im Zuge der Aktionen "Ungeziefer" und "Kornblume", unter denen nicht nur Vockfey, sondern alle Dörfer des Amtes Neuhaus zu leiden hatten. 


Zu lesen sind die Gründe, die für die Aussiedlung genannt wurden: "Feind der Sowjetunion", "Feind der DDR", "bewohnt fünf Zimmer, verweigert Aufnahme von Mietern", "Ausbeuter von Landarbeitern", "Gastwirt, beeinflusst Gäste", "laufende Verbindung mit Verwandten im Westen", "Schwarzschlachtung", "hört RIAS und NWDR", "Buntmetallhortung", usw., usw. Morgens, zwischen 4 und 6 Uhr, rückten Kampfgruppeneinheiten mit offenen LKW an, die das Mobiliar der völlig überraschten Menschen aufluden und abtransportierten. Das Ganze dauerte 4 bis 6 Stunden, dann waren die Häuser leer. Hier in Vockfey wurden 13 Familien bzw. 43 Personen deportiert. 


"Schutz vor westdeutschen Aggressionen" lautete in den 60er-Jahren die Sprachregelung zur Rechtfertigung. In Wirklichkeit ging es der Stasi darum, im Bereich des Schutzstreifens und des Sperrgebietes ein Klima von Unsicherheit, Angst und Misstrauen zu schaffen. Die historischen Hofanlagen blieben zunächst stehen, waren willkommener Wohnraum für Kriegsflüchtlinge. Dann aber setzte sich der politische Wille durch, das Grenzgebiet nach und nach zu entvölkern, welches zur Republikflucht durch die Elbe einlud. Mit Sonderprämien wurden Betriebskampfgruppen und andere Arbeiter gewonnen, die den Bauten zu Leibe rückten. Der Abbruch dauerte tagelang, über Vockfey hing eine Staubwolke. Was nicht außerhalb für Neubau oder Reparaturen gebraucht wurde, wanderte in den Karpfenteich. Dies war ein Brackgewässer, ein durch einen Dammbruch entstandenes 16 m tiefes Wasserloch in der Größe eines kleinen Sees. Beim Neubau des Deiches 2004 kam alles wieder zu Tage: Backsteine, Balken, Torpfosten, Fensterbögen und stählerne Überreste wie Schaufeln, Hufeisen, Schlösser, usw. Vieles davon ist bei der Gedenkstätte zu einer mannshohen Pyramide aufgeschichtet.


Dieser Stopp raubt mir die Leichtigkeit. Gedanken setzen sich fest und ziehen mich etwas runter. Dabei höre und lese ich davon ja nicht zum ersten Mal. Das Thema werde ich heute auch nicht mehr los: Kurz vor Darchau wiedermal ein alter Grenzwachturm, auf den Resten eines alten Deiches unmittelbar am Elbufer, kurz dahinter bei Popelau ein zweiter, ein schlanker BT 11 (Beobachtungsturm, 11 m hoch). Beide zur ständigen Erinnerung und Mahnung stehengelassen. Selbst bei einer Rast in einem schönen Hofcafé in Konau treffe ich in einem kleinen Nebengebäude auf eine weitere Gedenkstätte, die sich mit der Zwangsaussiedlung beschäftigt.


Andererseits ist es fast ein Wunder, dass das kleine Dorf Konau die "Grenzsäuberungen" halbwegs überstanden hat. Nur zwischen zwei Deichen, dem vorderen neuen und dem älteren, hinter dem sich die Häuser und prächtigen Hofanlagen verstecken, stehen alte Obstbäume. Sie markieren die Stelle, an der damals weitere Häuser standen, die in diesem früheren Deichvorland auf Warften den Hochwassern getrotzt haben. Wenn die Flut kam, waren die Häuser nur mit dem Kahn zu erreichen. Die Bewohner hat das nicht weiter gestört. Den DDR-Grenztruppen war das Kahnfahren im Deichvorland jedoch ein Dorn im Auge und so siedelten sie die Vordeich-Bewohner 1976 kurzerhand um, obwohl das Vorland seit 1971 bereits durch einen 3,20 m hohen Stahlgitterzaun zum Elbufer hin abgeriegelt war. Die Häuser der Vertriebenen wurden dem Erdboden gleich gemacht. 


Heute liegt das Marschhufendörfchen mit den fein herausgeputzten niedersächsischen Bauernhäusern und reetgedeckten Gehöften, wie sie in dieser Anordnung und Geschlossenheit einmalig sein sollen, so schmuck und einladend hinter dem Elbdeich wie vor Jahrhunderten. Ein architektonisches Juwel, das Teil eines Projekts der Expo 2000 in Hannover gewesen war. 


Die letzten Kilometer bis zu meinem Tagesziel Stiepelse gehe ich mehr oder weniger wie Hans-guck-in-die-Luft über den Deich. Gewaltige Wolkenformationen ziehen mich in ihren Bann. Ein scharfer Nordwestwind treibt sie eilig über mich hinweg, dunkle, fast schwarze, bedrohlich wirkende Wolken, gefolgt von den dicken, weißen. Ein bald hypnotisierendes Schauspiel. Ohne Anfang, ohne Ende. Ständig ändern sie ihre Formationen, wie im Zeitraffer.


So spät wie lange nicht erreiche ich Stiepelse, finde direkt am Deich meine Unterkunft, unheimlich schön, mit einem netten Wirt und einem guten Koch. Morgen erwarte ich Besuch: Wolfgang kommt nochmal zu mir hoch und begleitet mich drei Tage lang bis Zarrentin. Ich freu mich drauf!


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Kommentare: 1
  • #1

    Rolf (Samstag, 20 Juni 2015 21:44)

    Hallo Reinhard. Ich bin bei dir ;-)
    Verfolge begeistert deinen Trip. Über den originellen Duschverschlag muss ich gerade wieder schmunzeln !! Stark. Viel Spaß und weiter so.....Gruß Rolf